HT 2023: Fiktionalisierung – Manipulation – Instrumentalisierung. Der Umgang mit historischen Fakten in den Quellen der frühen bis hohen Kaiserzeit

HT 2023: Fiktionalisierung – Manipulation – Instrumentalisierung. Der Umgang mit historischen Fakten in den Quellen der frühen bis hohen Kaiserzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Jan Trosien, Alte Geschichte, Universität Hamburg

Die Sektion widmet sich dem Umgang mit Geschichts- und Tatsachendarstellungen im kaiserzeitlichen Quellenmaterial der Antike. Dabei stellen die Vortragenden Fallbeispiele vor, anhand derer die drei im Titel genannten Formen der Abänderung von Tatsachenberichten in verschiedenen Quellengattungen demonstriert werden können. Ziel sei es dabei, aus einer „Mikro-Perspektive“ auf die Methodik im Umgang mit Tatsachen und Fakten durch die antiken Autoren einzugehen, um die Grenzen der Identifikation dieser in der Quelle aufzeigen zu können.

MICHAEL ZERJADTKE (Hamburg) befasst sich in seinem Vortrag mit dem Einfluss der kaiserzeitlichen Rhetorikausbildung auf den Umgang mit Tatsachen in historiographischen Texten. Über die Inhalte, welche in den Rhetorikschulen vermittelt wurden, leitet er den Ausgangspunkt der zeitgenössischen Perspektive auf den Umgang mit der „Wahrheit“ durch einschlägige Quellen bezüglich der Verfassung von historiographischen Texten ein: Diese würden zwar die Aufgabe des Historiographen betonen, die „Wahrheit“ zu vermitteln, doch werde ebenso zur Ausschmückung des Textes angehalten.

Die Ausschmückungen identifiziert Michael Zerjadtke als Fiktionalisierungen und Schmuckelemente, die in den Quellen von einem Gerüst aus historischen Tatsachen getrennt werden können. Unter den Bestandteilen einer historiographischen Quelle ließen sich so Elemente mit gemeinhin hoher Historizität sowie teilweise fiktionalisierte Passagen und schließlich gänzlich erfundene Passagen identifizieren. Graphisch wurde dargestellt, dass die fiktionalisierten Elemente durchaus einen Großteil einer Quelle ausmachen können. Als ein spezielles Schmuckelement werden vom Referenten die topoi, besonders solche über „fremde Völker“, vorgebracht. Diese würden sich in erster Linie durch ihre weite Verbreitung und ihre hohe Akzeptanz in der (römischen) Bevölkerung auszeichnen, weshalb sie sich zur Ausschmückung von Tatsachenberichten geeignet hätten. Bezüglich ihrer Aussagekraft zeigte Michael Zerjadtke auf, dass auch wenn diese oft einen Kern mit Realitätsbezug aufwiesen, ihre Beständigkeit und Übertragbarkeit es ermöglichen, topos-Beschreibungen anzutreffen, die kaum einen Bezug zur Realität aufweisen.

Schlussendlich müsse die „Linie der Historizität“ für die die meisten historiographischen Quellen der Kaiserzeit niedrig angesetzt werden, da ein Großteil ihres Inhaltes zu ausschmückenden Zwecken fiktionalisiert sei und damit den Idealen der Rhetorikschulen folgen würde. Nichtsdestotrotz wurde der Nutzen dieser fiktionalisierten Anteile für den modernen Historiker betont, da diese für das zeitgenössische Publikum dennoch überzeugend und glaubhaft gewesen seien müssen. Fiktionalisierte Passagen historiographischer Quellen seien daher „weder wahr noch falsch, sondern möglich“.

ANTONIETTA CASTIELLO (Oxford/Oldenburg) stellt in ihrem Vortrag die Neuformung der Romulus-Figur in augusteischer Zeit vor. Ausschlaggebend für diesen Prozess, der nach Gehrke als „Mythenrationalisierung“ bezeichnet werden könne, war Oktavians Nähe zur Figur des Romulus in der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Diese sei nicht ausschließlich auf die Initiative des Princeps zurückzuführen, sondern sei auch durch die zeitgenössischen Historiker und Dichter bemüht worden. Neben seinem Haus auf dem Palatin, der Abbildung auf Münzen in der Art des Romulus und schließlich dem Titel Pater Patriae habe sich dadurch allerdings auch eine Verbindung zum bekannten Brudermord des Romulus an Remus ergeben, da Oktavian selbst einen „Bruderkrieg“ gegen Marcus Antonius führte.

Antonietta Castiello zeigt nun, dass in den zeitgenössischen Quellen eine Umdeutung eben dieses Aspektes des Gründungsmythos Roms zu beobachten sei: Bei Cicero und Horaz werde noch deutlich herausgestellt, dass Romulus sich schuldig machte, wenn er zu seinem Nutzen mordete; der Brudermord also ein „Verbrechen“ war. Livius und Plutarch hingegen hätten bereits die Provokation des Romulus durch Remus als Ursache des Brudermordes hervorgehoben, auch wenn sie diesen nicht bestritten hätten. Bei Ovid und unter anderen auch Dionysius von Halicarnassos hingegen würde sich die letzte Stufe der Umdeutung finden, in der bekanntlich nicht Romulus, sondern ein bisher unbekannter Celer den „schuldigen Remus“ ermordet. Hier sei Romulus schließlich ein Vir Pius, dem man als perfekten Gründer der Stadt nicht vorwerfen könne, Brudermord begannen zu haben und der im Gegenteil aufgrund seiner Aufgabe, die Stadtbevölkerung zu schützen, als Opfer den Verlust seines Bruders zu beklagen habe.

Als nächstes behandelte CONSUELO MARTINO (Edinburgh) Suetons Biografie des Caligula. Sie geht hierbei auf einige Passagen der Biografie, die üblicherweise zur Charakterisierung des Caligula dienen, sowie andere zeitgenössische Quellen ein. Ziel dieses Ansatzes sei es nicht etwa, Caligula zu rehabilitieren, sondern vielmehr die Aussagekraft der Biografie als Quelle zu demonstrieren und so zum Erkenntnisgewinn über den Kaiser beizutragen.

So prangert Sueton Caligulas geheime Verfolgungslisten an, was gemeinhin als ein Ausdruck seines „soziopathischen Charakters“ verstanden werde. Consuela Martino zeigt allerdings auf, dass beispielsweise auch Sulla und Augustus ähnliche Listen anfertigten. Diese seien ihren Urhebern allerdings nicht in einer Weise zum Vorwurf gemacht worden, wie es bei Caligula der Fall sei. Ähnliches konnte die Vortragende auch für Caligulas Pläne, die Hauptstadt zu verlegen, sowie bezüglich der Gerüchte um ein inzestuöses Verhältnis zwischen Caligula und seiner Schwester und seiner allgemein als unanständig aufgefassten sexuellen Vorlieben aufzeigen – all diese Aspekte fänden sich einzeln im Zusammenhang mit anderen bekannten zeitgenössischen Personen, wie Mark Anton, Cicero und Augustus, von denen keiner wie Caligula stilisiert wurde. Tatsächlich fände sich bei Sueton mit der Beschreibung über die Rückführung der Asche Agrippas und der Mutter des Caligula durch den Kaiser eine Geschichte, die eine positive Qualität eines römischen Herrschers, die der Wertschätzung der Familie, beschreibt, welche diesem allerdings durch den Autor nicht positiv angerechnet werden würde.

Schlussendlich zeigte Consuela Martino, dass die Caligulabiografie des Sueton zwar eindeutig eine Quelle ist, die von der politischen Instrumentalisierung des Andenkens an den Kaiser bestimmt wird, sich die Inhalte der Quelle aber durchaus in sekundäre Überlieferungen einfügen lässt. Suetons gebe nicht nur Einblick in die Biografie des Kaisers, sondern auch in politische Tradition der Zeit.

CHRISTIAN WEIGEL (Bonn) befasst sich in seinem Vortrag mit der Erzählprosa der Kaiserzeit. Als konkrete Fallstudie dient ihm dabei der Roman Chäreas und Kallirrhoe des Chariton von Aphrodisias. Dieser sei in ein historisches Setting eingebettet und beschreibe dennoch Personen kaiserzeitlicher Sozialisierung. Der Autor verdeutliche den Anspruch eines historischen Settings bereits durch die Einleitung und den Schlusssatz, mit dem er Thukydides selbst aufgreife. Christian Weigel betont aber dennoch den romantischen und fiktionalen Charakter der Handlung des Romans, zu dessen Gunsten zuweilen Freiheiten in der Darstellung von historischen Personen und Zusammenhängen genommen würden. So trete im Roman ein persischer König mit dem Namen Artaxerxes auf, dessen historisches Vorbild, Artaxerxes I, zeitlich nicht mit den Geschehnissen des Romanes vereinbar sei.

Christian Weigel führt an, dass Chariton im Allgemeinen als „Kenner der Griechen“ auszumachen sei. Die Diskrepanzen zwischen historischen Tatsachen und den fiktionalisierten Passagen des Romans könnten somit entweder auf konkrete Wissenslücken, eventuell als Folge eines begrenzten Quellenzugriffs des Autors oder bewusst genommene Freiheiten in der Präsentation des historischen Inhaltes zurückzuführen zu sein. In einem Rückbezug zum ersten Vortrag der Sektion seien die Handlungen des Romans zwar fiktional, aber dennoch möglich.

Der letzte Vortrag der Sektion von ALEXANDER FREE (München/Yale) befasst sich mit Appians Stadtgeschichte Roms. Appian sei ein durch die Forschung im Vergleich zu seinen Zeitgenossen vernachlässigter Autor. Er könne weder als Literat im Kontext der Zweiten Sophistik noch als Historiograph im direkten Vergleich mit dem weit intensiver erforschten Cassius Dio hervorstechen. Alexander Free argumentiert in seinem Vortrag nun, dass Appian eben nicht nur in einem direkten Vergleich zu Cassius Dio verstanden werden solle, sondern vielmehr im Kontext livianischer Geschichtsschreibung, in der Absicht ein griechisches Pendant zur „ab urbe condita“ zu schaffen, betrachtet werden könne.

Zu diesem Zweck geht Alexander Free eingangs auf die literarischen Einflüsse des Appian ein, unter denen er lateinische Autoren und nicht zuletzt Livius selbst identifiziert. Hier sei die Inspiration zu finden, die Appian dazu veranlasste, sich einem Geschichtswerk „ab urbe condita“ zu widmen. Dass er dabei in homerischer Art nach Völkerschaften trennt und auf griechisch verfasst, solle seinen Ansatz, einen „Blickwinkel aus provinzialer Perspektive“ zu liefern, zu einem Novum machen: Appian werde durch diesen Ansatz zu einer Alternative zum Livius für die Zeitgenossen.

Diese Verbindung der zwei Autoren demonstriert Alexander Free am Beispiel ihrer Darstellung der Karthager und der Punischen Kriege. Obwohl hier die vermittelten Ereignisse weitestgehend übereinstimmen würden, setze sich Appian in der Deutung von Livius ab: Bei ihm werde so beispielsweise Hannibal persönlich eine große Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschrieben, wohingegen die Karthager gegenüber der livianischen Fassung aufgewertet werden würden.

So ergebe sich bei Appian bereits eine Neudeutung von Ereignissen gegenüber dem Konsens römischer Geschichtsschreibung. Cassius Dio, bei dessen Werk eben dieser Aspekt ebenfalls von zentraler Bedeutung sei, wird von Alexander Free in einem Ausblick bedacht: Demnach sei es Cassius Dio, der im Anschluss an Appian dessen Ziel umsetzen würde und eine gesamtrömische Geschichte in griechischer Sprache verfasst habe. Als Grund dafür, dass Appian in dieser Hinsicht als Vorgänger wenig bedacht würde, sieht der Vortragende den nach Ethnien gegliederten Ansatz sowie einige historische Urteile des Appian, die beide als unzeitgemäß empfunden worden seien.

Schlussendlich ergab sich aus der Sektion für den Althistoriker eine ergiebige Ergründung des Leitmotivs des diesjährigen Historikertages: Die kaiserzeitlichen Autoren verstanden es in der Tat historische Tatsachen zu verschiedenen Zwecken zu instrumentalisieren, zu manipulieren, oder gar historisch anmutende Inhalte gänzlich zu fiktionalisieren – schließlich verbleiben so auch in antiken Quellen überraschend „fragile Fakten“. Dabei ergibt sich aus den Vorträgen wohl in Summe eine Aufforderung zur gründlichen Quellenarbeit: Die Intentionen des Autors müssen verstanden werden, wie auch der Kontext der Entstehung des Werkes. So lässt sich schließlich trotz oder gar wegen des vielschichtigen Umgangs mit historischen Fakten in den kaiserzeitlichen Quellen immer noch ein Erkenntnisgewinn erzielen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitungs: Antonietta Castiello (Oxford/ Oldenburg) / Michael Zerjadtke (Hamburg) / Alexander Free (München)

Michael Zerjadtke (Hamburg): Rhetorik, Wahrheit und das Schreiben von Geschichte.

Antonietta Castiello (Oxford/Oldenburg): Vom Brudermörder zum „Opfer“: die Neuformung der Figur Romulus und der Legende der Gründung Roms zur Augusteische Zeit.

Consuelo Martino (Edinburgh): The last option or a pondered choice? Suetonius, Tacitus and material culture on the accession of Tiberius.

Christian Weigel (Bonn): Der „historische Roman“ der Kaiserzeit – Geschichte als Instrument fiktionalen Erzählens.

Alexander Free (München): Eine Alternative zu gängigen Darstellungen - Appians Römische Geschichte.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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